Inge Kleiber
Die Macht der Freundschaft

Seit Tagen war der Fund der Toten im Kiesweiher Stadtgespräch. Obwohl die Polizei sich noch nicht über die näheren Umstände geäußert hatte, tauschten die Anwohner ihre Vermutungen bezüglich der Todesursache bis hin zu vermeintlichen Mordmotiven aus.

Für Selina, die nach ihrer Ankunft auf dem Günzburger Bahnhof durch die Schlagzeilen der Tagespresse davon erfuhr, war die Nachricht mehr als beunruhigend. Sie war an diesem Morgen in den Zug gestiegen, um Carla zu suchen. Die Freundin lebte seit einigen Monaten in der schwäbischen Stadt und hatte Selina von hier aus täglich angerufen. Zuletzt vor drei Wochen. Danach war Carla spurlos verschwunden.

Selina suchte sich ein Taxi und nannte dem Fahrer Carlas Adresse.

Das Fahrzeug hielt kurz darauf vor einem älteren Gebäude. Umgeben von hohen Bäumen war es eine Kopie der Häuser, die hier Seite an Seite standen. Als sie den Taxifahrer bezahlte, bemerkte sie zwei Polizisten, die sich auf dem Nachbargrundstück mit einem Mann unterhielten. Er hielt beschützend einen Arm um ein kleines Mädchen, das sich an eines seiner Hosenbeine geklammert hatte. Dunkle, mandelförmige Augen blickten erschrocken zu ihr. Selina wandte sich verlegen ab und lief zielstrebig auf Carlas Haus zu. Sie klingelte. Obwohl Selina Carlas Freund Tom nur aus den Erzählungen der Freundin kannte, wusste sie sofort, wen sie vor sich hatte, als ihr ein großer, schlaksiger Mann öffnete. Auch Tom hatte Carla seit Wochen nicht gesehen. Besser gesagt seit dem Tag, an dem er ihren Brief gefunden hatte, in dem sie ihm mitteilte, dass sie mit einem anderen Mann weggehen wollte. Blind vor Eifersucht und Selbstmitleid hatte er bisher nie an der Echtheit des Briefes gezweifelt. Auch Selina hatte keine Erklärung für das merkwürdige Verhalten der Freundin. Warum hatte sich Carla ihr nicht anvertraut? Warum meldete sie sich jetzt nicht?

Von Tom erfuhr Selina auch, dass es sich bei der Toten vom See um die Frau des Nachbarn, einer Thailänderin, handelte. Selina dachte voller Mitleid an das kleine Mädchen.

Am Nachmittag durchsuchten sie zusammen Carlas Sachen, in der Hoffnung auf Anhaltspunkte zu stoßen, als Selina aus dem Fenster blickte und das Kind im Garten sah. Instinktiv schlenderte sie in den Garten. Sie wollte irgendetwas Belangloses sagen, brachte jedoch kein Wort heraus, als das Mädchen ihr lächelnd zuwinkte. Am Handgelenk des Kindes baumelte Carlas Armband. Es war zwar doppelt um das dünne Ärmchen geschlungen, trotzdem erkannte Selina das feingliedrige Schmuckstück, das sie der Freundin geschenkt hatte. Als die Kleine bemerkte, worauf Selinas Blick fiel, legte es die andere Hand beschützend auf das Armband und plapperte: „Kora-Li gefunden im Garten…. ……darf nicht in Garten …….Kora-Li Angst vor großem Hund“. Selina wollte schon nachfragen, was sie meinte, wurde aber von Kora-Li’s Vater unterbrochen, der seine Tochter ungeduldig zu sich rief.

Zurück im Haus erzählte Selina Tom von ihrem seltsamen Gespräch. Er konnte sich die Reaktion des Kindes nicht erklären, erwähnte dabei aber, dass Kora-Li‘s Mutter liebevoll den Garten gepflegt und, wie er von Carla wusste, in einer Schrebergartensiedlung ein kleines Paradies geschaffen hatte. Im gleichen Augenblick hörte er Selina nach Luft schnappen. Tom verstand nicht warum sie darauf bestand, sofort zur Schrebergartensiedlung zu fahren. Trotzdem führte er sie zur Garage, deutete auf Carlas Fahrrad und ohne ein weiteres Wort fuhren sie Richtung Stadtrand. Liebevoll gepflegte Gärten reihten sich aneinander. Inmitten der ganzen Pracht stach das Reich von Kora-Li’s Mutter hervor. Ein exotisches Paradies, das sich nicht der schwäbischen Umgebung angepasst hatte. Dort wo ringsum kleine Hütten standen, erhob sich ein kleiner Holz-Palast umrahmt von zwei Säulen auf jeder Seite. Selina meinte das Heimweh der Eigentümerin zu spüren. Ein schmaler Weg führte zum Eingang, der von einem großen steinernen Hund bewacht wurde.

Das musste der Garten gewesen sein von dem Kora-Li gesprochen hatte. Selina war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie den Garten um das Wohnhaus gemeint hatte, daher konnte sie sich die Reaktion des Mädchens nicht erklären. Die Erinnerung an Kora-Li’s Ängste brachte Selina in die Wirklichkeit zurück. Sie musste sich beeilen, es dämmerte bereits und bald würde sie nichts mehr sehen können. Während Tom unschlüssig von einem Bein auf das andere trat, kletterte Selina über das kleine Tor und lief auf das Portal des Holzgebäudes zu. Die Eingangstüre war abgeschlossen. Mit beiden Händen tastete sie zielstrebig die Umgebung ab und war trotzdem überrascht, als sich am Fuße des Hundes eine Steinfliese bewegte. Sie ließ sich zur Seite schieben. Dahinter kam ein Schlüssel zum Vorschein. Vorsichtig steckte sie den Schlüssel ins Schloss und öffnete langsam die Türe. Als sich ihre Augen der Dunkelheit angepasst hatten, sah sie einen einzelnen Raum, in dem nur ein Teppich und einige Kissen in einer Ecke lagen. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein massiver Schrank, als einziges Möbelstück. Selina war sich nicht sicher, was sie eigentlich suchte, trotzdem war sie enttäuscht. Sie wollte sich bereits wieder abwenden, als sie die Falltür unter dem Schrank bemerkte. Warum hatte ihn jemand direkt auf der Falltür platziert? Der Raum ließ viele andere Möglichkeiten zu. Selina versuchte das Möbelstück zu verschieben. Aber ihre Kraft reichte nicht aus. Als sie sich umdrehen und Tom um Hilfe rufen wollte, sah sie plötzlich einen langen Gegenstand über ihrem Kopf auf sie niedersausen. Instinktiv drehte sie sich weg. Doch da spürte sie bereits einen stechenden Schmerz in ihrer Schulter. Gleich darauf legte sich ein Arm von hinten um ihren Hals. Panik erfasst sie. Im nächsten Augenblick wurde der Angreifer von ihr weggezogen und an die gegenüberliegende Wand geschleudert. Bevor er wieder auf die Beine kam, war Tom über ihm. In seiner Hand die Holzdiele, die vorher Selina verletzt hatte. In diesem Augenblick erkannte sie Kora-Li’s Vater, der zusammengekauert am Boden lag und seinen Kopf schluchzend zwischen seinen Armen verbarg. Momentan schien keine Gefahr von ihm auszugehen. Tom hielt noch immer die Diele hoch, unschlüssig was er jetzt tun sollte. Selina deutete mit dem Kopf zum Schrank und gemeinsam schoben sie das schwere Möbelstück zur Seite. Als Tom die Falltür öffnete, schrie Selina entsetzt auf. In der Grube lag Carla. Tom erstarrte. Doch schon im nächsten Moment stürzte er sich auf den am Boden Liegenden und zog ihn an seinem Hemd auf die Füße. Während seine Fäuste auf ihn einschlugen, rief er immer wieder: „Was hast du mit ihr gemacht?“ Erst allmählich drang Selinas schluchzende Stimme zu ihm durch. „Tom! Sie atmet noch“. Ansonsten war Carla in einem erbärmlichen Zustand. Völlig abgemagert und verdreckt war sie ohne Bewusstsein. Tom informierte Polizei und Notarzt.


Minuten später war von der faszinierenden Schönheit und Ruhe des kleinen, thailändischen Paradieses nichts mehr zu spüren. Unzählige Polizisten liefen umher. Während Sanitäter und ein Notarzt um Carlas Leben kämpften, wurde Kora-Li’s Vater abgeführt. Er hatte gestanden die Leiche seiner Frau im Kiesweiher versenkt zu haben, nachdem sie im Verlauf einer handgreiflichen Auseinandersetzung gestürzt und schwer mit dem Kopf aufgeschlagen war. Sie war sofort tot gewesen. Aus Angst seine Tochter zu verlieren, wollte er die Leiche beseitigen. Doch dabei hatte ihn Carla überrascht. Nachdem er nicht in der Lage war, vorsätzlich einen Mord zu begehen, sah er als Ausweg die Grube im Haus des Schrebergartens, die bisher als Vorratsraum gedient hatte. Carla zwang er, einen Abschiedsbrief zu schreiben und deponierte ihn in ihrer Wohnung. Einmal täglich spät nachts durfte sie ihr Gefängnis verlassen. Danach bekam sie eine Kleinigkeit zu essen und Wasser, das mit einem Schlafmittel versetzt war. Den Rest der Tage und Nächte verbrachte sie gefesselt und geknebelt. Jeden Abend hatte er gehofft, sie nicht mehr lebend vorzufinden und die Zukunft mit seinem einzigen Kind wäre gesichert gewesen. Doch er hatte nicht mit der Macht der Freundschaft gerechnet.


Inge Kleiber
Medlingen