Thomas Leiter
Eine Kette unglücklicher Umstände

Schon seit einer halben Stunde fingerte Rodosch an diesem Computerdrucker herum-mal vor sich hin schimpfend,mal schmerzerfüllt aufschreiend,da er sich wieder einen seiner Finger zwischen den Scharnieren dieses taiwanesischen Teufelsgerätes eingeklemmt hatte.

Rodosch kam immer mehr zu der Überzeugung,dass dieser Apparat nur zu dem Zwecke konstruiert worden war,um mindestens zweimal täglich auf dem Computer-
bildschirm die Anzeige „Papierstau“ zu produzieren und den Rechner lahm zu legen.
Sein Kollege Wünschle hingegen saß entspannt hinter seinem Schreibtisch und betrachtete gelassen diesen ungleichen Kampf zwischen schwäbischem Menschen und fernöstlicher Maschine.Er sinnierte beim Blick durchs Fenster auf den Verkehr in der Augsburger Straße darüber nach,was er wohl seiner Frau zum demnächst anstehenden Hochzeitstag verehren könnte.

„Ebbes mit Wellness“,dachte sich Wünschle.“Des megat d´Fraua allweil“,glaubte er nach sechsundzwanzig Ehejahren zu wissen.
Da störte das Läuten des Telefones dieses halb ent-,halb gespannte amtsstübische Idyll in der Günzburger Polizeidienststelle.
Wünschle nahm den Hörer zur Hand und am anderen Ende der Leitung meldete sich Friedrich Burger,der Besitzer eines alteingesessenen Juweliergeschäftes am Günzburger Marktplatz.

Wünschle und Burger kannten sich seit vielen Jahren,denn wie üblicherweise allerorten,so strahlte auch in Günzburg ein Schmuckgeschäft so manche Verlockungen wie zum Beispiel Ladendiebstahl oder versuchten Einbruch für potenzielle Kunden der Polizei aus.

Heute jedoch sollte das Anliegen des Geschäftsmannes etwas delikater,ja fast staats- beziehungsweise stadttragender sein.
„Herr Wünschle,etwas Furchtbares ist geschehen!“,stammelte der nach Worten ringende Schmuckhändler durch den Hörer.

Schon sah Wünschle vor seinem geistigen Auge den leergeräumten Verkaufsraum samt gefesslter und geknebelter Angestellter des Herrn Burger plastisch vor sich.
Wie er es als geübter Zuschauer unzähliger Fernsehkrimis gelernt hatte,entgegnete
er dem aufgelösten Juwelier in seinem besten Hochdeutsch den in dieser Situation angebrachten Mustersatz sämtlicher Fernsehpolizisten:“Beruhigen Sie sich erst mal!“.

„Sie machen mir Spaß,Herr Wünschle!“,antwortete Burger,“Die jahrhundertelange
Reputation meines Geschäftes steht auf dem Spiel!Man hat die Amtskette des Herrn
Oberbürgermeisters aus meinem Tresor entwendet!“
„Oha“,kommentierte Wünschle kurz,trocken und vom Hochdeutschen wieder gänzlich verlassen.

„Ich hatte die Kette zum Aufpolieren und für ein paar kleinere Reparaturen im Hause“,setzte Burger sein Klagen fort,“In zwei Tagen benötigt der Oberbürgermeister die Kette bei der Eröffnung des Volksfestes!“
„Bleibat´s ruhig,Herr Burger!“,sprach Wünschle nun sanft zu dem zur Gänze verstörten Schmuckhändler,“Mir send in fünf Minuta bei Eahne!“
Ein heiseres „Danke“ des Juweliers beendete das fernmündliche Gespräch.
„Werner,des mit dem Drucker bringsch Du in dausad Jahr ned na.Auf jetzt,mir hant
an Einsatz!“,so rief Wünschle seinem sich immer noch mit der Hardware duellie-
renden Kollegen Rodosch zu.
 
Auf der Fahrt mit dem Streifenwagen zum Marktplatz schilderte Wünschle Rodosch diesen offenbaren Diebstahl von höchster kommunalpolitischer Brisanz.
„Klar,am Freitag isch der Feschtumzug und d´Volksfeschteröffnung.Der Chef hat scho gsagt,dass mir zwoi d´Bahnhofstraß´ absperra müssa“,kommentierte ein nunmehr durch die Abwesenheit widerspenstiger Computerutensilien zu seinem alten Phlegma zurückgekehrter Rodosch,“Aber so a Gschiss wega dera alta Kette!Des werd au ohne ganga“.

Wünschle schwieg zu diesen typisch Rodoschen Ausführungen um des kollegialen Friedens Willen und ob der wieder einsetzenden sommerlichen Schwüle,denn die vergangenen Tage hatten mit Sonne und Hitze nicht gespart.
 
Es war so gegen zehn Uhr vormittags,als die beiden Polizisten den hellen,freundlichen Juwelierladen betraten.

Der Inhaber empfing sie sogleich und führte sie in sein modern eingerichtetes Büro.
Noch immer zitterte seine Stimme wie schon zuvor am Telefon und auf seiner Stirn hatte sich eine Großfamilie von Schweißperlen niedergelassen.Sein Teint war äußerst gerötet,was die giftgrüne Farbe seiner Krawatte,welche er zu seinem schwarzen Anzug trug,noch intensiver leuchten ließ.

„Hier war die Amtskette die Nacht über eingesperrt!“,sagte Burger und deutete dabei auf den geöffneten Tresor,“Ich selbst habe sie gestern bearbeitet und in den Safe gesperrt.Eigentlich wollte ich sie im Laufe des Morgens persönlich dem Herrn Oberbürgermeister zurückbringen.Meine Herren,sie sehen mich fassungslos!“
„Fehlt sonscht no ebbes?“,fragte Wünschle den Schmuckhändler.

„Nichts.Kein Stück.Nur die Amtskette!Das ist es ja,was ich nicht verstehen kann.Und erbrochen hat man den Geldschrank auch nicht!“,entgegnete der trotz aller Widrigkeiten immer noch distinguiert seine Worte wählende Schmuckhändler.
„Nau hat des Ding halt oiner von de Angeschtellte verschlampat“,sagte nun der zur Überraschung Wünschles Diensteifer zu entwickeln scheinende Rodosch,“Hant Sie die scho gfragt?“
Wünschle warf seinem Kollegen einen disziplinierenden Blick zu,denn die Rodosch angeborene,etwas rustikale Direktheit war der Situation und dem vornehmen Gegenüber wohl kaum angemessen.
So nahm Wünschle wieder das Heft in die Hand und wandte sich erneut Burger zu:
„Wann hant Sie die Kette wieder in der Safe zruckglegt und was hant Sie dann gmacht?“
„Das war so gegen vierzehn Uhr als ich die Amtskette in den Tresor legte.Danach fuhr ich nach Schloss Klingenburg zum Golfen.Bis Geschäftsschluss waren noch meine Verkäuferin,Frau Lanero,und meine Auszubildende,Frau Kreidinger,im Geschäft.Doch beide beschwören,alles ordnungsgemäß verschlossen zu haben“,
erklärte Burger.

Wiederum fiel Wünschle ein adäquter Fernsehkrimi-Satz ein:“Haben Sie einen Verdacht?“;doh weder war Wünschle TV-Kommissar noch bei der echten Kripo und so unterdrückte er diese Mattscheiben-Floskel.
Für einen Moment herrschte Stille im Büro.
Dann schluchzte der Juwelier auf:“Was machen wir jetzt?Wenn das publik wird,ist dies das Ende meines Geschäftes“
„Werner,Du nimmsch jetz scho mal s´Protokoll auf und i gang a mal schnell auf´s Rathaus nauf“,wies Wünschle in tatkräftigem Ton seinen Kollegen an,“Ond Sie,Herr Burger,verzählat alles nomal meim Kolleg.Aber bitte langsam.“
Rodosch zog beleidigt seine Augenbrauen nach unten.
Die beiden Polizisten verließen gemeinsam den Laden.Rodosch stapfte verstimmt zum Wagen,um die Protokollformulare zu holen,wohingegen Wünschle sich schnellen Schrittes die Rathausgasse aufwärts begab.
 
Im Rathaus angekommen steuerte Wünschle zielstrebig das Büro seines alten Schulfreundes Konrad Hotter an,der Sachbearbeiter im Ordnungsamt war.
Auf Konrad´s Diskretion konnte sich der Polizist verlassen,denn Wünschle versuchte immer erst,den Dingen möglichst lautlos nachzugehen.
Nach einer freundschaftlichen Begrüßung berichtete Wünschle seinem Freund Hotter von der Maläse des bekannten Schmuckhändlers.
Hotter griff zu seiner Schnupftabaksdose,schnupfte,schnäuzte und sagte dann:
„Des isch natürlich a bösa Gschicht,denn beim Feschtumzug braucht onser OB sei Amtskette.Des däd sonscht glatt auffalla“
Noch einmal griff Hotter zur Schnupfdose.“Des wundrat mi sowieso,dass der OB dia Kette ned scho früher braucht hat,denn geschdern hat er am Aubad no an Termin auf der Reischburg ghabt.Irgend so a Kongress von so hochschdudierte Professora.Da hat er a Gruaßwort sprecha müssa.Er hat´s mir geschdern no auf´m
Gang verzählt,als i grad hoimganga wollt“
Vielleicht,so vermutete Wünschle,hatte sich der Herr Oberbürgermeister seine Amtskette zu diesem Anlass ja doch auf irgendeine Art und Weise während der Abwesenheit des Juweliers beschaffen lassen.
Nun half alle Diskretion nichts mehr,Wünschle musste nun definitiv wissen,ob sich die gesuchte Amtskette wieder in städtischem Besitz befand.
Er dankte seinem Freund Hotter und machte sich auf zum Amtszimmer des Stadtoberhauptes.
 
Im Vorzimmer begrüßte ihn die Sekretärin sehr herzlich und auf sein Nachfragen ob der Anwesenheit ihres Chefs hin,entgenete sie ihm,dass sie diesen jeden Moment von einem Pressetermin zurück erwarte.
Wünschle setzte sich auf dem ihm angebotenen Stuhl,lehnte jedoch den ihm ebenso angebotenen Kaffee dankend ab.
Nur wenige Minuten später betrat der Oberbürgermeister in Lederhose und Trachten-
janker gewandet das Vorzimmer.
„Ja,Herr Wünschle,Grüß Gottle!Des isch ja a Überraschung.Was hab i verbrocha?“,
begrüßte der Rathauschef lachend den Polizisten,gab ihm die Hand und bat ihn alsgleich in sein Amtszimmer.
Beide nahmen in einer kleinen Sitzgruppe Platz und der Oberbürgermeister sagte:
„Gell,Sie wundrat sich über mei Aufmachung,aber i komm grad von am Fototermin für d´Zeitung mit em Feschtwirt vom Volksfescht und em Brauereibesitzer.I hab die Maß Bier aber bloß in d´Kamera ghoba.Drunka han i se ned.Mir könnat aber gern a Bluatprobe macha“,und er offerierte Wünschle launisch die Unterseite seines rechten Armes.
Wünschle lehnte großzügig ab und berichtete nun dem Rathauschef von dem „Fall Amtskette“.
Kaum war Wünschle mit seinen Ausführungen am Ende,so brach der Oberbürgermeister in ein schallendes Gelächter aus und sagte zu dem Polizisten:
„Herr Wünschle,Handschella raus!Ich gestehe!I bin der Täter!“
Und dann erzählte der Stadtoberste von dem schon von Hotter erwähnten Termin auf Schloss Reisensburg und der nicht vorhandenen Amtskette,was ihm jedoch erst nach Geschäftsschluss eingefallen war.Er hatte daraufhin bei Juwelier Burger zu Hause angerufen,dort jedoch nur dessen Frau erreicht,welche ihm freundlicherweise die Amtskette aus dem Tresor des Geschäftes holte und vorbeibrachte.
Nun war Wünschle erleichtert und auch ein wenig stolz auf sich und seinen detektivischen Erfolg.
„Kommen´s,Herr Wünschle,da geh´ mer jetzt glei gemeinsam runter zum Herrn Burger-und i natürlich mit der Amtskette um da Hals!“,schlug der Oberbürgermeister
Vor.

So geschah es und in der nun für alle Seiten gelösten Atmosphäre stellte sich heraus,dass die Frau des Juweliers noch am gleichen Abend zu ihrer Mutter nach Salzburg gefahren war.Eigentlich hatte sie ihrem Mann eine schriftliche Nachricht über die Übergabe der Amtskette in den Tresor gelegt,doch die hatte der Juwelier in seiner Aufregung beim Durchstöbern des Geldschrankes mit verschiedenen Schmuckschachteln überdeckt.

Der Einzige,der die heitere Stimmung im Büro des Preziosenhändlers trübte,war Rodosch,der missmutig kund tat:“Da hätt´ mer mit am Protokoll au no warta könna.Aber noi,beim Herrn Wünschle muass ja immer alles glei sei“
 
Jetzt war Freitagnachmittag und die Polizisten Wünschle und Rodosch sorgten mit ihrem Polizeiwagen dafür,dass der Festumzug zum Volksfestplatz an der Donau gefahrlos durch die Bahnhofstraße passieren konnte.
Als die Kutsche mit dem Oberbürgermeister an den beiden Uniformierten vorbeifuhr,
winkte dieser ihnen freundlich zu und hielt schelmisch grinsend die Amtskette in die Höhe.

Wünschle beschloss,später nochmals beim Juweliergeschäft Burger vorbeizusehen.Vielleicht schenkte er ja seiner Frau zum Hochzeitstag statt „Ebbes mit Wellness“ doch lieber eine schöne Halskette.
 
 
 
Thomas Leiter
Günzburg