Lothar Müller
Der vergessene Tote

Einen Knochen beim Aushub einer Baumaßnahme zu finden, ist an und für sich nichts Ungewöhnliches., einen so kleinen noch dazu. Doch Baggerfahrer Gerhard Häßler vom gleichnamigen Abbruchunternehmen aus Burgau, ist dies nicht ganz geheuer. Normalerweise achtet er nicht auf irgendwelchen Kleinkram, der von seiner Schaufel auf den LKW fällt. Doch dieser Knochen scheint etwas Besonderes an sich zu haben. Trotz des eklig matschigen Wetters leuchtet er im frühen Morgenlicht.
Er öffnet die Türe seine Kanzel, steigt von seinem Führerhaus herab und patscht mit seinen Gummistiefeln in den lehmig-kiesigen Morast. Er atmet den vom Gestank des laufenden Dieselmotors durchsetzen Nebel ein und wischt vorsichtig den Schmutz ganz vorsichtig von dem noch in der Baggerschaufel liegenden Knochen ab. Ganz behutsam, ohne ihn tatsächlich zu berühren.
Grausige Gedanken gehen durch seinen Kopf was die Herkunft anbetrifft. Die schier unendliche Zahl der Krimis, die man immer wieder im Fernsehen vorgesetzt bekommt, haben ihre Wirkung. Sein Innerstes sagt ihm, dass die Herkunft des Knochens zumindest fragwürdig ist und er beschließt die Polizei anzurufen. Er holt sein Telefon aus der feuchten Tasche seines Regenkittels.

„So ein Mist“, grandelte er, noch etwas angeschlagen vom Vorabend, vor sich hin, „ist dieses bescheuerte Handy schon wieder leer“. Natürlich gab es in der Nähe auch keine Telefonzelle auf dieser gewaltigen Baustelle neben dem Günzburger Bahnhof, aus der er hätte jemanden anrufen können.
Während er noch mürrisch um sich schaut, will es der Zufall, dass just in diesem Moment eines dieser normalerweise ungeliebten grün-weiß gestreiften PKWs aus der Suppe des ungemütlichen Donaunebels auftaucht. Hauptkommissar Schneizer von der Autobahnpolizei war es selbst, der vom Beifahrersitz aus seinem Kollegen die Anweisung gibt anzuhalten.

Häßler und er kennen sich, hatten sie sich nicht erst vor ein paar Stunden im Intermezzo getroffen, wo Schneizer mit seinen Kollegen ein Feierabendbier trank und sich hatte die üblichen Polizistenwitze über sich ergehen lassen müssen.
Doch Schneizer erkennt an Häßlers Gesicht, dass es ihm nicht spaßig zu Mute war. Weit und breit kein anderer Mensch um diese Uhrzeit in Sichtweite und Häßler schaut mit faltig verzogenem Gesicht, tief würgend in die vor Nässe triefende Schaufel. Es beginnt stärker zu regnen, Schneizer steigt seinem trockenen Wagen aus, stapft durch den Morast, beugt sich ebenfalls über Häßlers Baggerschaufel. Auch ihm kommt die Sache nicht ganz geheuer vor. Er beugt sich nach unten, zieht mit den bloßen Händen einen mit rostigen schiefen Nägeln besetzen Stecken schnalzend aus dem tiefgründigen Boden und holt den blanken Knochen noch vollends ans Tageslicht. Ein Stück verschlissener Stoff kommt dabei zum Vorschein. Schneizer legt beides zusammen auf ein Stück durchweichten Karton neben die Schaufel.
Häßler fröstelt es. Und während der andere Beamte die immer mehr werdenden Zuschauer des Geschehens von den beiden abhält, gibt Schneizer Häßler den Auftrag an der Fundstelle vorsichtig weiter zu baggern.

Häßler stockt der Atem. Wortlos steigt er über die Ketten seines Fahrzeugs in die Kabine, wischt sich mit dem schmutzigen Ärmel seiner Jacke übers Gesicht und gibt Gas. Er leert den Inhalt seiner Schaufel auf die gegenüberliegende Seite, er hebt sie an und setzt sie vorsichtig, als ginge es darum etwas sehr Zerbrechliches zu bergen, in das zuvor geschaffene Loch, zieht sie langsam in Richtung des Baggers, hält kurz inne, als ob ihm die Kraft ausgeht. Mit geschlossenen Augen hebt er Zentimeter für Zentimeter das mit den scharfen Zähnen besetzte Ende der Baggerschaufel nach oben, als ein schallender Schrei sein Gehör durchdringt.

„Haaalt“, schreit Schneizer durch die Menge, die mit teils gierigen, teils entsetzten Blicken das Geschehen verfolgt. Sein Kollege konnte die geilen Gaffer schon lange nicht mehr zurück halten. Häßler hält sofort inne, doch Schneizer gibt ihm den Befehl vorsichtig weiter zu machen.
Was zum Vorschein kommt, ist nur im Schockzustand zu ertragen. Teile von Kleidungsstücken, die Überreste eines Leichnams, der als solcher kaum noch zu erkennen ist und völlig durchgerostete Metallteile, vermutlich Teile eines Autodaches.
Wo kommt der Tote her? War er ein Unfall? War es Mord?
Schneizer hebt die größeren der halb zerfallenen Stoffreste an und entdeckt die Überbleibsel eines kleinen Behältnisses, das einmal so etwas wie ein Geldbeutel hätte sein können. Er schiebt einige stark verschmutzte Schnipsel einer Hülle beiseite und entdeckt auf einem schäbigen Rest eines Ausweises einen Namen auf dem die letzten Buchstaben ...dbauer zu entziffern war.

Schneizer beißt nervös auf seinem Daumennagel und hält wie verstockt inne.
Ihm schießt wie vom Blitz getroffen ein längst vergessener, ungeklärter Fall durch den Kopf. Er hatte sich vor gut 20 Jahren auf der Autobahn zugetragen. Eine Massenkarambolage nahe Leipheim. Über drei Dutzend Autos fuhren im dichten Novembernebel ineinander und wurden von den hiesigen Abschleppdiensten auf Werkstätten und Autofriedhöfe verteilt. Doch ein Auto fehlte am Ende und einer der Fahrer. Er wurde nie gefunden.


Lothar Müller
Burgau